Erinnern an die, die keine Chance hattenÜber unseren Besuch der KZ-Gedenkstätte Neuengamme am 14. April 2023

6 Uhr. Wenige Grad über Null. Aufstellen zum Morgenappell. Anwesenheitskontrolle. Abgemagert, geschwächt und unendlich müde stehen die Häftlinge in Reih und Glied und warten auf das Ende der Anwesenheitskontrolle, um im Anschluss ihre 12-Stunden-Schicht zu beginnen. Das Frühstück besteht aus einer Kaffee unähnlichen braunen Brühe, das Mittagessen wird aus einer Art Suppe mit Gemüseschalenresten ungleich nahrhafter sein, bevor es eine Mindestkalorienzufuhr am Abend über ein Stück Brot gibt.

„Mein Gott, hätte man gesagt, heute kannst du dich satt essen und morgen wirst du erhängt, wäre ich einverstanden gewesen.“

An dieses Gefühl echten Hungers erinnerte sich Natalja Radtschenko, die als ukrainischer Häftling die Gefangenschaft im Konzentrationslager Neuengamme überlebt hat.

Zeitzeugen, die uns authentisch und ungeschönt von einem der dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte berichten können, gibt es heute kaum noch. Umso wichtiger ist es, dass eine Erinnerungskultur für Schülerinnen und Schüler ebenso wie für Erwachsene geschaffen wird.
Einen solchen Ort des Erinnerns und Gedenkens haben ich mit 14 Schülerinnen und Schülern der 9. und 10. Klassen besucht. Im Rahmen unseres Projekts zum „Alltag und zur Haft in Konzentrationslagern zur Zeit der Naziherrschaft“ bekamen wir die Gelegenheit, die KZ-Gedenkstätte in Neuengamme bei Hamburg zu erkunden.

Auf dem Ausstellungsgelände sind mehrere Gebäude(teile) aus der Nutzungszeit als Konzentrationslager erhalten. Wer allerdings Effekthascherei und große Schockmomente sucht, wird in hier nicht fündig. Die Mitarbeiter wollen aufklären, erinnern, bilden, keinen Elendstourismus betreiben. Auch wenn die Baracken, Verbrennungsöfen und andere Gebäude nicht mehr erhalten sind, hatte das Betreten der Anlage für uns eine eindringliche Wirkung, denn die Museumspädagogen haben es verstanden, durch ein überlegtes Konzept eine intensive Vorstellungskraft bei den Besuchern zu erzeugen. So befinden sich direkt am Appellplatz, den man als erstes betritt, große Steinreihen, die maßstabsgerecht die ehemaligen Schlafbaracken darstellen. Die Enge, der Gestank, das Elend erschienen so vor unseren Augen.

„Gott, wie ich das alles aushielt: Läuse, Blutgeschwüre, Hunger, Schläge, Misshandlung, Durchfälle. Es blieb von mir nur ein Schatten. Und vielleicht überlebte ich nur deshalb, weil ich so jung war.“

In einem Interview erinnerte sich Krystyna Razinska aus Polen an ihre Zeit in einem Außenlager des KZs bei Hamburg.  Dieses wurde vor allem für politische Gegner aus ganz Europa eingerichtet, unter denen zunehmend auch andere Verfolgte wie Sinti und Roma, Homosexuelle und Juden waren. Etwa die Hälfte der insgesamt 100.000 Personen überlebte die bewusst herbeigeführten menschenunwürdigen Lebens- und Arbeitsbedingungen.

Unser Guide begleitete uns vier Stunden über das Gelände, informierte über die Haftbedingungen und den Alltag in Neuengamme, einem Arbeitslager für Ziegelproduktion. Insgesamt hätten wir uns mehr Zeit gewünscht, die Hauptausstellung und das Gelände etwas eigenständiger erkunden zu können. Am Ende der Führung wechselten wir den Blick von den Opfern der Nationalsozialisten hin zu den Tätern – den Mitarbeitern des Lagers. Diese Perspektive wäre vertiefenswert gewesen, weil es unglaublich schwierig ist, die Motive und das Handeln der Aufseher und Kommandanten zu erfassen.

Der Besuch war für alle lohnenswert, interessant, aber auch aufgrund der vielen Informationen und Eindrücke sehr überwältigend. In jedem Fall hat es sowohl den Schülern als auch mir als Lehrerin einen besonderen Zugang zu einem Stück deutscher Geschichte gegeben, viel näher und verständlicher als Unterricht im Klassenraum es ermöglichen kann.

Fr. Witte